Analyse zum Kohleausstieg Der 2030-Schock: Beim Blick auf die Kohle-Pläne der Ampel greift im Osten Panik um sich

FOCUS-Online-Redakteur Matthias Hochstätter

Dienstag, 26.10.2021, 08:49

Jetzt soll der Kohle-Ausstieg nach dem Willen der künftigen Ampel-Koalition schon 2030 kommen. Acht Jahre früher als geplant. Die Menschen im Lausitzer Revier sind alarmiert. Und die AfD reibt sich in ihren östlichen Hochburgen genüsslich die Hände.

2038 oder 2030? Das sind die zwei Zahlen, die sich Politiker, Wissenschaftler und Klimaschützer seit Monaten an den Kopf werfen. Doch es sind mehr als nur zwei Zahlen, und es geht mehr als nur um Klimaschutz: Ob Deutschland acht Jahre früher aus der Braunkohle aussteigt als bislang abgemacht, entscheidet über die Jobs von 75.000 Menschen und deren Familien - und über den Wohlstand und den politischen Extremismus im äußersten Osten Deutschlands. Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa
Die Abendsonne scheint auf die Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Jänschwalde der Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG).

Nach monatelangen Verhandlungen hatten die Energiewende-Minister Peter Altmaier (Wirtschaft, CDU) und Svenja Schulze (Umwelt, SPD) mit der Kohlewirtschaft vor zwei Jahren abgemacht, dass 2038 Schluss ist für die Kohlekraftwerke und den Braunkohletagebau. Der Bund lässt dafür 40 Milliarden Euro für Unternehmen und Kohle-Regionen springen. Allein 29 Kraftwerksblöcke für Braunkohle sollen noch laut Bundesnetzagentur bis 2038 stillgelegt werden.

Um die Braunkohleregion am Niederrhein machen sich Regionalplaner noch die wenigsten Sorgen. Liegen doch prosperierende Rheinmetropolen wie Köln und Düsseldorf in der Nähe, die den Strukturwandel zusätzlich abfedern. Doch in der Lausitz und im Mitteldeutschen Revier geht jetzt die Angst um. Tief im Osten gibt es keine funkelnden Hightech-Metropolen. Kurz vor der polnischen oder tschechischen Grenze flackert allenfalls in weiter Ferne Leipzig als ökonomischer Leuchtturm.

Vorsicht vor der AfD: Kretschmer pocht beim Kohleausstieg auf Vertragstreue

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) forderte die Ampel-Unterhändler bereits zur Vertragstreue beim Kohleausstieg auf. Es gebe spezielle Interessen in Mitteldeutschland, sagte der CDU-Politiker im MDR-Fernsehen. So dürften die Arbeitsplätze nicht einfach verlorengehen und die Region in einen Schock versetzt werden.

Erste Schockwellen breiten sich schon seit der Bundestagswahl 2017 aus: Im sächsischen Wahlkreis Görlitz errang die AfD über 32 Prozent. 2021 ebenfalls. In Sachsen ist die AfD 2021 sogar landesweit stärkste Partei geworden. Auch in den brandenburgischen Landkreisen rund um die Braunkohle-Reviere wie Elbe-Elster, Spree-Neiße oder westlich von Leipzig im sachsen-anhaltinischen Burgenland-Saalekreis hat sich die AfD seit 2017 mit um die 25 Prozent etabliert.

Auch die Grünen stimmten in der Kohlekommission für das Jahr 2038

Allein in der Lausitz geht es laut Bundeswirtschaftsministerium um etwa 25.000 Jobs und Familien, die direkt und indirekt an der Braunkohle hängen, um über eine Milliarde Euro Wertschöpfung pro Jahr und um einen Industrie-Region, die mehr benötigt als Tourismus an renaturierten Tagebauen und Baggerseen.

Umschulungen, Ansiedlung von Unternehmen und Forschung, Ausbau der dünnen Verkehrsinfrastruktur und die komplette Digitalisierung der Region könnten die Lausitz auch in einer Zukunft nach der Kohle attraktiv machen. Doch das braucht Zeit. Der Kompromiss der Kommission "Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung" vor zwei Jahren lautete daher: 2038. Ein Viertel der 28-köpfigen Kommission gehörte den Grünen an oder kam aus Umweltschutzorganisationen. Jetzt wollen die Grünen und die ihnen nahestehenden Verbände schon 2030 aussteigen. Wegen des Klimaschutzes. Wie man so schnell den Strukturwandel hinbekommen will, sagen sie nicht.

Auch die Wirtschaftswissenschaft hat darauf keine klare Antwort. Mit großen Anstrengungen und einem beschleunigten Bau von Windkraft- und Solaranlagen könne man zwar bis 2030 die wegfallenden Braunkohle-Kraftwerke ersetzen, so die nüchternen Modellrechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) oder des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln). Aber beim beschleunigten Strukturwandel bleibt man vage.

Konkret werden beide Institute jedoch nicht. Es ist scheinbar für die Wissenschaft einfacher, mit ausgeklügelten Excel-Formeln den deutschen Kraftwerkspark neu zu ordnen, als wegfallende Jobs in einer strukturschwachen Region zu kompensieren.

Woidke will mit der Ampel "geordneten Strukturwandel"

So zweifelt denn auch der brandenburgische SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke daran, dass ein vorgezogener Kohleausstieg vor dem Jahr 2038 möglich sei und beschwor bereits im September gegenüber "dpa" die Energiesicherheit des Landes. Und Spitzenvertreter der brandenburgischen SPD betonen immer wieder, dass man für den Kohleausstieg in der Lausitz einen "geordneten Strukturwandel" brauche und soziale Perspektiven für die Menschen.

Bei den Koalitionsverhandlungen zur Ampel wird Woidke unter anderem mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil und Bundesumweltministerin Svenja Schulze (beide SPD) in der Arbeitsgruppe "Klima, Energie, Transformation" sitzen. Auch für seinen sächsischen Ministerpräsidenten-Kollegen Kretschmer von der CDU wird er sich dort bemühen, ein gutes Ergebnis für die Lausitz und die anderen ostdeutschen Reviere herauszuschlagen. Es geht eben um mehr als nur um Zahlen.


Quelle: focus.de